Vorletzte Woche kam eine Einladung zu einem Familientreffen im Friaul für Sonntag, der ich trotz etwas ungünstiger Vorzeichen (Abiball meiner Tochter am Vorabend
) gerne Folge leistete, hatte ich doch einige meiner Cousins und Cousinen seit teilweise mehr als 30 Jahren nicht gesehen. Ich nahm mir vor, ein paar Ecken da unten aufzusuchen, die ich irgendwie bei all den Reisen dorthin verpasst hatte.
In weiser Voraussicht noch Montag und Dienstag Urlaub eingetragen und nach einer sehr kurzen Nacht ab in den Süden. Die Fahrt verlief trotz Schlafmangel kurz und gut und das Mittagessen war allererste Sahne. Der Rest des Sonntags verliert sich dann im Dunst von Frizzantino und ein paar "caffé corretto". Wenigstens war ich nüchtern genug, mich für den nächsten Tag mit einem der Cousins in Aquleia zu verabreden, das auf meiner Besichtigungsliste stand.
Nach einer friedlichen Nacht brach ich am Montag von Latisana nach Precenicco auf, dem kleinen Ort, in dem meine italienischen Großeltern lebten und mein Vater (mit seinen fünf Geschwistern - am Sonntag waren dann auch gut 30-40 Leute beim Familientreffen) aufwuchs. Precenicco liegt in der Friulanischen Ebene rund 10km von der Adria entfernt. Ein eher langweiliger Landstrich, geprägt von Feldern und Bewässerungskanälen mit großen, teilweise verlassenen Bauernhöfen und kleinen Dörfern.
Hier ein solcher typischer Bauernhof (verlassen) in der flachen Landschaft:
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Precenicco selbst ist touristisch weitgehend uninteressant, obwohl dort die ältesten menschlichen Überreste im gesamten Friaul gefunden wurden. Bereits vor rund 6.000 Jahren siedelten Menschen am Ufer des Flusses Stella, die neben vielen Fundstücken in Form von bearbeitetem Feuerstein auch ein intaktes Kindergrab hinterliesen. Die Fundstücke werden in der "Casa del Marinaretto" aufbewahrt, einem denkmalgeschützten Bau am gegenüberliegenden Flussufer und - wie ich finde - recht ansprechenden Fotomotiv:
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Das nächste Bild hat keinerlei künstlerischen Anspruch, für mich aber eine ganz persönliche Bedeutung:
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In dem Haus befand sich bis vor rund 20 Jahren eine "Bar". Das sind in Italien Kneipen, die morgens um 7 öffnen, Getränke vom Kaffee bis zum Schnaps, kleine Snacks und vor allem die Möglichkeit bieten, sich zu treffen und zu unterhalten. In dieser speziellen Bar gab es außerdem noch sehr leckeres "Gelato" und der Wirt war eine Seele von Mensch, bei dem sich die gesamte Dorfjugend traf. Genau vor dieser Bar, mit der Stuhllehne an die Wand gelehnt, saß ich am späten Vormittag des 15. September 1976 und schleckte mein Eis. Im Mai des Jahres hatte ein schweres Erdbeben große Schäden in der Region angerichtet und an jenem Septembertag gab es um 5 Uhr Morgens ein weiteres starkes Beben, das ich aber fast verschlafen hatte. Außer großer Aufregung war nichts los und so saß ich da vor der Bar, als um 11:30 die Erde erneut zu beben begann. Was dann folgte, werde ich nie im Leben vergessen: die Welt schien aus Gummi zu sein, der Asphalt bewegte sich in Wellen von rund 30cm Höhe, die rund 10-15 Meter hohen Pappeln um die Piazza peitschten hin und her und berührten mit den Spitzen den Boden, der Kirchturm schlug mehrere Meter weit aus. All das war so dermaßen unwirklich und unglaublich, dass ich einfach an der Hausmauer angelehnt blieb (gottseidank kam das Dach nicht herunter - es hätte mich sicher erschlagen) und - vermutlich mit offenem Mund - das Spektakel geradezu genoss. Angst hat man in einer solchen Situation einfach nicht..... Das Beben hatte übrigens eine Stärke von 6,0 und das Epizentrum war nur rund 40km entfernt.
Das alles ging mir am Montag um 8 Uhr Morgens durch den Kopf, als ich mir Capuccino und "Cornetto" in der Bar genehmigte. Dort wird übrigens nicht nur Bier frisch gezapft:
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Grüße aus dem Süden
Alfredo